Corona: Wer will ich nach der Krise sein?

Jeder merkt es mehr oder weniger: Es wackelt ganz gewaltig an unseren Grundfesten. Die Krise beschäftigt uns nicht nur gesundheitlich oder wirtschaftlich bis in die kleinste Synapse. Sie nagt an der Erfüllung nahezu aller Bedürfnisse, die wir Menschen haben. Gleichzeitig bietet sie aber auch Gelegenheiten, sie kreativ zu erfüllen.

Nach Jahren des nicht-infragestellbaren Wohlstandes und der unerschütterlichen Sicherheit, werden wir heute alle mit grundlegenden Fragen konfrontiert, von denen wir vor Monaten noch dachten, dass sie uns niemals beschäftigen würden. Viele der Menschen, die nach 1989 in Deutschland geboren wurden, erleben heute ihre erste globale Krise und somit das erste mal eine Situation, welche die ganze Welt gleichermaßen herausfordert.

Ich frage mich, was das wohl mit uns macht: Wie wirkt sich diese fast schon traumatische Situation auf unsere Bedürfnisse aus? Welche Verschiebungen gibt es hier? Was deckt sie in uns auf? Welche Fragen stellen wir uns? Was ist uns wirklich wichtig? Und wird uns das heute auch klar? Was heißt das für unser Handeln nach der Krise?

Für meine Überlegungen möchte ich die Bedürfnisse nach Max-Neef als Basis nehmen. Er definiert die folgenden Bedürfnisse, die er nicht nur als Mangel sondern auch als Potenziale sieht:

  • Überleben, Materielle Lebensgrundlage, Lebenserhaltung
  • Schutz, Sicherheit
  • Zuneigung, Zuwendung, Liebe
  • Verstehen, Verständnis
  • Partizipation, Teilnahme
  • Muße, Müßiggang
  • Kreativität
  • Identität
  • Freiheit

Bei allen Überlegungen gehe ich von mir und den Menschen in meiner Umgebung aus. Ich weiß, dass es auch in Deutschland viel zu viele Menschen gibt, die auch ohne Krise viele dieser Bedürfnisse nicht erfüllt sehen. Ich versuche mich hier jedoch an Überlegungen, die sich auf einen breiten Teil der Gesellschaft beziehen und die bisher das Glück hatten, ein gutes Auskommen, einen Beruf und Sicherheit zu genießen.

Überleben

Hand aufs Herz: Wer hat sich bis Dezember 2019 in Deutschland ernsthaft Sorgen um seine Lebensgrundlage oder – noch größer – sein Leben und das seiner Familie gemacht? Ich nicht. Sicher, Fragen nach der Gesundheit meiner Familie und mir standen immer wieder im Fokus, waren aber nie über einen dauerhaften Zeitraum so präsent und eingebettet in eine kollektive Schockstarre wie dies heute der Fall ist.

Fragen wie “gibt es morgen noch Mehl zu kaufen”, “muss ich mir einen Lebensmittelvorrat anlegen”, “gibt es nächste Woche noch Nahrungsmittel” habe ich nicht für möglich gehalten. Ich fühlte mich in der Krise zwar bisher nicht existenziell bedroht, aber ähnlich, wie in einem Horrorfilm, schwang und schwingt immer noch eine Bedrohung mit, die nicht greifbar ist, auf die einen dramatische Musik aber unmissverständlich aufmerksam macht. Das ist ein Gefühl, das ich bisher nicht kannte.

Schutz und Sicherheit

Selbstverständlichkeiten geraten ins Wanken: die wirtschaftlichen Folgen sind bisher nicht absehbar in ihrer negativen Ausprägung. Was heißt das für das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die Altersvorsorge? Was passiert, wenn ein Staat seine Verpflichtungen nicht mehr bedienen kann? Wie wirkt sich das auf den Wohlstand der Gesellschaft und auch meinen ganz individuellen Wohlstand aus? Ist meine Immobilie morgen noch etwas wert? Kann ich diese in Zukunft noch finanzieren oder meine Miete bezahlen?

Aus einem relativ starken Sicherheitsgefühl von mir und in meiner Wahrnehmung auch bei vielen anderen ist Unsicherheit geworden. Gleichzeitig zeigt die Gesellschaft ein großes Maß an Solidarität: Einkäufe werden für gefährdetere Menschen erledigt, wir achten mehr aufeinander. Oft aber habe ich persönlich den Eindruck, dass es vielen Menschen wahnsinnig schwer fällt (und sie es schier ablehnen), die komplexe Lage zu würdigen, ein “großes gesellschaftliches Ziel” zu erkennen und solidarisch zu agieren.

Es gibt Licht und Schatten, alles in allem herrscht Unsicherheit und eine wackelnde Bedürfniserfüllung vor.

Zuneigung, Zuwendung und Liebe

Durch die wochenlang anhaltenden Beschränkungen des sozialen Lebens lechzen die Menschen geradezu nach sozialen Kontakten und der Pflege von Freundschaften jenseits der Videokonferenz. Insbesondere für Menschen, die allein leben, ist dies sicher eine große Belastung. Aber auch in Familien, in denen der Alltag mit zwei Jobs, Kinderbetreuung und Beschulung überlastet ist, kommt das Thema Zuneigung sicher oft zu kurz, wenn wir uns nicht ganz bewusst darauf besinnen. Das zeigt erschreckend auch der Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt.

Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist für wirklich alle Menschen in irgendeiner Form nicht erfüllt. Wir versuchen es, digital zu substituieren, haben da auch tolle Erfahrungen. Ersetzen kann die Kamera aber kein Gespräch zwischen Menschen, die sich ganzheitlich wahrnehmen und sehen, nicht.

Verstehen und Verständnis

Die Krise ist eine komplexe Situation. Wir haben so etwas schlicht noch nie erlebt und somit auch kein Patentrezept für den Umgang mit ihr. Das resultiert darin, dass sich Wissenschaft und die daraus resultierenden politischen Entscheidungen ebenfalls in ihrer Richtung verändern. Wir fahren alle auf Sicht. So sind die sich verändernden KPIs, die als Zielwerte zur Eindämmung der Krise herangezogen werden, wissenschaftlich erklärbar, für den einzelnen, der sich aber nicht im Detail damit auseinandersetzt, resultieren sie in dem unbefriedigendem Gefühl, dass sich die Betrachtung ständig ändert. Es nicht (mehr) zu verstehen, Menschen fühlen sich abgehängt und “lost”.

Diese Dynamik der Entwicklung, welche mit Unverständnis und Ungewissheit einhergeht, gepaart mit dem Fakt, dass es in der Öffentlichkeit nur noch dieses eine Thema gibt, sorgt für ein weiteres Gefühl der Unsicherheit.

Partizipation und Teilnahme

Die Möglichkeiten der Teilnahme in Parteien, Vereinen oder Ehrenämtern sind deutlich eingeschränkt. Wir können einen Teil virtuell ersetzen, auch entstehen neue Formen des Engagements für krisenbezogene Situationen im Internet. Alles in allem erleben Menschen heute aber wenig Möglichkeiten der Teilnahme.

Auch das rüttelt an unserem Gemeinschaftssinn und vermittelt uns das Gefühl, nicht mehr Teil zu sein der Dinge, die uns wirklich mit Leidenschaft erfüllen. Verantwortungsübernahme fällt schwer (wofür auch), Möglichkeiten zum Gestalten sind eingeschränkt.

Es entstehen zwar auch hier tolle Initiativen für die Teilhabe von Menschen: Auch hier seien bspw. Einkäufe für gefährdete Menschen genannt oder digitale kulturelle Projekte. Aber auch dies ist nur eine Teilersetzung für Partizipationsräume, die in der Krise weggefallen sind.

Muße und Müßiggang

Spaß und Spiele gibt es fast nur noch online. Ausgelassen mit Freunden feiern, Konzerte, Kino oder Theater besuchen – all das ist nicht möglich. Erholungsmöglichkeiten finden in den eigenen vier Wänden, im Internet, dem Garten oder der näheren Umgebung draußen statt. Das gibt uns viel Raum, uns all den Fragen unserer Bedürfnisse zu widmen. Ob die Zeit zum “Träumen in den Tag” wirklich so viele positive Aspekte hat, während all die oben genannten Fragen präsent sind, weiß ich nicht.

Positiv finde ich dennoch, dass wir nun gezwungen werden, uns um all diese Fragen, die eigentlich sowieso tief in uns schlummern, Gedanken zu machen. Ein tolles Angebot, das uns diese Krise macht.

Kreativität

Auch dieses Bedürfnis erfährt eine massive Einschränkung. Sicher, das Internet bietet so tolle kreative Ansätze für den Umgang mit der Krise. Aber eben nicht alle Menschen entfalten ihr kreatives Potenzial im virtuellen Raum. Bands, Chöre, Debattierclubs, Jam Sessions, Fotostreifzüge mit Gleichgesinnten: All das ist nicht oder nur stark eingeschränkt möglich.

Mit den Einschränkungen, die wir erleben, völlig neue Wege zu finden, kreative Bedürfnisse auszuleben, fällt nicht allen Menschen leicht. Heißt es doch, dass wir uns ein Stück neu erfinden und ganz bewusst kreativ werden müssen in Dingen, die wir nur online, zu Hause oder in einem eingeschränkten physischen Raum weitgehend alleine gestalten können.

Freiheit

In allen beschriebenen Bedürfnissen schwingt es mit: Wir werden von außen in unserer Freiheit eingeschränkt. Nicht wir entscheiden, wie nahe wir anderen Menschen kommen, sondern die Politik auf Basis der Wissenschaft. Wir haben keine Möglichkeit, zu reisen, wohin wir wollen, die Menschen zu treffen, die wir mögen, zu feiern, wo wir möchten. Wir erleben eine so deutliche Beschneidung unserer Spielräume, dass es mir persönlich so surreal vorkommt, wenn ich einen Film sehe, in dem Menschen in einem Restaurant sitzen oder reisen. Das wirkt wie aus einer anderen Zeit.

Insbesondere mit den Einschränkungen der Freiheit scheinen die Menschen ihre größten Schmerzen zu haben. Hier zeigt sich meiner Meinung nach ein strukturelles (Bildungs-)problem: wir sind so gepolt auf das Ausleben unserer Individualität, dass es uns wahnsinnig schwer fällt, ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel wie der Bekämpfung einer Pandemie über die eigene Freiheit zu stellen. Ich finde die Diskussion darum enorm wichtig und im demokratischen Sinne gut, wie viele kritische Stimmen es gibt. In einer pandemischen Situation, in der es aber schlicht um das gesundheitliche (nicht ideologische Wohl) der Bevölkerung geht, können wir uns den Luxus der totalen individuellen Freiheit nicht leisten. Das immer wieder kritisch zu sehen, ist zwar unsere demokratische Pflicht. Ich wünsche mir dennoch, dass mehr Menschen erkennen und honorieren, in welcher komplexen Ausnahmesituation wir uns befinden und dass das eben Dinge verlangt, die wir noch nie getan haben. Und Gesundheit ist nicht ideologisch interpretierbar, sondern faktisch ein Gut, das uns allen wichtig sein muss.

Identität und die zentrale Frage

In der Frage nach der eigenen Identität laufen alle diese nicht erfüllten Bedürfnisse von oben zusammen. Ich glaube, dass die Frage nach der eigenen Identität heute viel größeres Gewicht bekommt und es an der Zeit ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Habe ich das Richtige gelernt? Welche Beziehungen zu anderen Menschen habe ich? Was tut mir gut? Habe ich den richtigen Job ergriffen? Welche Freunde und Kollegen wünsche ich mir eigentlich? Welche Kultur in meinem Job? Wo erfahre ich wirklich Wertschätzung und Zuneigung im Job wie im Privatleben?

Das führt zu der zentralen Frage, welche die jetzige Zeit aufwirft und für die ein toller Zeitpunkt ist, sie sich jetzt zu stellen:

Wer will ich nach der Krise sein?

Ich bin gespannt, wie wir damit umgehen werden. Zwei Szenarien möchte ich hier kurz aufzeigen.

Wird unser Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität durch die Krise so gestärkt, dass wir demütiger werden, den vielleicht schon lange nicht mehr tollsten Job doch noch weiterzumachen, weil er uns Sicherheit gibt? Werden wir leidensfähiger und abgehärteter werden?

Oder ist es ganz anders: Werden wir Menschen in der Krise so sehr auf all die genannten Basisfragen gestoßen, dass wir uns noch mehr darauf fokussieren, die Dinge zu tun, die Menschen zu treffen und die Erlebnisse zu erschaffen, die wir wirklich wollen? Können wir das überhaupt, wenn wir erstmal damit beschäftigt sind, den wirtschaftlichen Trümmerhaufen zu beseitigen?

Jetzt in der Organisation handeln

Die Herausforderungen und Fragen, die sich Organisationen in Bezug auf die Situation der Menschen stellen müssen, sind vielfältig. Ich schreibe hier keine Antworten, möchte aber gerne einige Impulse geben und freue mich auf eure Ansätze zu Lösungen oder Ergänzungen der Fragen:

  • Was heißt das Wissen um die Bedürfnislage von Menschen jetzt schon für Führung und Organisation?
  • Was tun wir, um Menschen in ihren Sorgen aufzufangen und ihnen Gelegenheit zum Zuhören zu geben?
  • Wie erreichen wir, dass wir eine Kultur erschaffen, in denen Menschen jetzt und nach der Krise auf viele Fragen ihrer Bedürfnisse eine Antwort finden?
  • Wie vermitteln wir diese Antworten in Krisenzeiten auch glaubhaft?
  • Wie schaffen wir ein Miteinander, in dem wir gemeinsam nach Antworten suchen für die Fragen, von denen wir dachten, wir müssten sie uns nicht stellen?
  • Wie helfen wir den Menschen in der Organisation, Resilienz zu entwickeln, um in Krisenzeiten besser gerüstet zu sein?
  • Wie fördern wir Lösungsdenken in Bezug auf Kollaboration und dem Blick auf das Ganze?

All diese Fragen treiben mich gerade sehr um und ich freue mich über den Austausch dazu. Gerne direkt per Mail oder auch in einem Gespräch / Coaching per Zoom/Teams/Skype.

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