Du bist nicht Opfer deines Lebens.

Wenn es nicht nur ein Unwort des Jahres sondern auch eine Unredensart des Jahres gäbe, wäre für mich die Gewinnerin in diesem Jahr klar: “In Zeiten von Corona.” Mir begegnet dieser Ausdruck täglich. Irgendwie wirkt dieser Ausdruck auf mich fast schon entschuldigend dafür, dass wir glauben – vielleicht nur noch weniger als sonst – kaum bis keine Gelegenheit zu haben, selbst etwas ändern, selbst etwas gestalten zu können. Für mich spiegelt er eine Haltung wider, die ich bereits zu Beginn der Krise beschrieben habe: Ein passives Warten darauf, dass endlich jemand für uns Entscheidungen trifft und unser Handeln anstößt. Dabei haben wir selbst viel mehr mentalen und kreativen Handlungsspielraum, den wir unbedingt nutzen müssen.

Natürlich: Die Krise ist etwas von Außen getriggertes. Niemand kann etwas dafür. In gewisser Weise sind wir also alle Opfer dieser Pandemie, keiner hat sie sich ausgesucht. Außer einigen Verschwörungstheoretikern hat auch niemand eine Idee, wen er dafür schuldig machen kann und an wen er die Verantwortung abgeben könnte. Das macht es nur noch schwerer, mit der Situation umzugehen. Mein Eindruck ist, dass es uns gerade wegen dieser diffusen Verantwortungslage – in dieser komplexen Lage – schwer fällt, selbst Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und zu gestalten.

Wir warten.

Statt dessen warten wir. Wir warten darauf, dass uns jemand sagt, was wir tun sollen und reagieren dann auch noch mit unserem urtypischen Auslegen von Regeln nach dem Motto “wo kein Kläger, da kein Richter”, statt selbst den Präfrontalen Cortex einzuschalten: Neulich hörte ich in einem Interview im Deutschlandfunk die Geschichte eins Journalisten, welche von der Anfangszeit des Lockdowns (mein Gewinnerwort für das “Unwort des Jahres”) in Baden-Württemberg in etwa so berichtete: Die Maskenpflicht in Geschäften wurde freitags eingeführt, aber erst am Montag darauf bei Nichtbeachtung mit Bußgeldern belegt. Als besagter Journalist nun freitags in einen Laden ging und die Angestellten dort darauf hinwies, dass ab heute ja nun Masken getragen werden müssten, sie aber ja keine angelegt hätten, antworteten die: “Ja, wissen wir, aber Bußgelder gibt es ja erst ab Montag.”

Da fragt man sich schon, wie sehr Menschen in der Lage sind, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Mir geht es dabei gar nicht so sehr um die Krisensituation. Mir geht es um die zugrundeliegende Haltung, die hier für mich sehr deutlich wird und die sich durch die Krise gerade nur viel intensiver zeigt: Eine oft passive, egoistische Haltung ohne den Antrieb, selbst zu gestalten und zu entscheiden. Dabei möchte ich natürlich nicht alle Menschen über einen Kamm scheren, aber meine Wahrnehmung aus vielen Gesprächen ist, dass viele Menschen das Potenzial haben, ihre eigene Handlungsfähigkeit zu entdecken.

Raus aus dem Solarium!

Nachdem wir nun im fünften Monat der Pandemie sind, wird diese passive Haltung zum Problem. Denn ich glaube, dass wir bisher die Auswirkungen der Pandemie auf uns persönlich weitgehend nicht gespürt haben oder auch nicht spüren wollten. Wir sind also spät dran, uns Gedanken zu machen. Millionen Arbeitnehmer*innen sind in Kurzarbeit, die ersten Unternehmen und Branchen sind in einer echten Schieflage, vielleicht kentern sie auch schon. Aber uns persönlich ging es bisher doch weitgehend gut. Bisher sind die allermeisten doch weich gefallen: die größte Sorge war, ob wir wohl in den Urlaub fahren können oder nicht. Bisher konnten wir unsere emotionale Reaktion auf die Krise weitgehend ausblenden oder verschieben.

Dabei sind einige schwarze Wolken da, wir gehen aber fleißig ins Solarium, um uns mit Sonne zu versorgen und uns davon abzulenken: Wir können es uns noch nicht vorstellen und wollen es vermutlich nicht wahrhaben, was da eigentlich passiert. Ich befürchte, dass uns in den kommenden Wochen allen aber sehr deutlich werden wird, was das eigentlich alles bedeuten kann und welche schwarzen Wolken da am Himmel sind, die wir nun nicht mehr ignorieren können. Welche wirtschaftlichen Folgen die Pandemie haben wird, wie sich bspw. sowieso existierende Trends wie der “Niedergang der Innenstädte” durch Insolvenzen verschärfen, wie sich ganze Branchen neu erfinden müssen – all das scheint erst jetzt – ganz langsam – bei uns anzukommen und sich auf ihren Umgang mit der Krise auszuwirken. Wie müssen also jetzt Verantwortung für unser eigenes Handeln übernehmen und anfangen zu gestalten.

Im Podcast Arbeitsphilosophen hörte ich die Tage Frank Eilers, wie er davon sprach, dass er als Selbständiger einen Notfallplan mit mehreren Szenarien in der Schreibtischschublade liegen hatte, der ihm half, in der Krisensituation schnell wichtige Entscheidungen zu treffen. Ein tolles Beispiel für Verantwortungsübernahme für sich selbst und sein Umfeld. Genau diese Haltung vermisse ich bei vielen Menschen und zwar nicht erst seit “der Zeit mit Corona.”

Du entscheidest.

Wahrscheinlich ist es gar nicht für jeden nötig, einen versiegelten Notfallplan im Schreibtisch liegen zu haben. Ich glaube aber schon, dass es gerade jetzt wichtig ist, zu reflektieren und sich persönlich diese wichtigen Fragen zu stellen. Nur so kommen wir in einen nach vorne gerichteten Denkmodus, der uns erlaubt, uns auf die noch lange verbleibende Krisenzeit zu vorzubereiten und uns zu sensibilisieren für eine vielleicht noch sehr lange Zeit, die uns Corona beschert.

Trotz aller Krise: Du bist nicht Opfer deines Lebens. Warte nicht, bis jemand dir sagt, was zu tun ist und was richtig ist. Benutze deinen eigenen Kopf und dein Herz, um zu entscheiden, was für dich und dein direktes Umfeld die richtigen Impulse sind. Nimm ernst, wie es dir geht. Wie gehst du emotional mit dieser Krise um? Was macht es mit dir, elementaren Fragen ausgesetzt zu sein? Was macht die unsichere Zukunft mit dir? Was kannst du tun, um dich und deine Mitmenschen bestmöglich zu begleiten? Welche Bedürfnisse hast du?Finde deine Kreativität: Was ist das, wofür du wirklich, wirklich brennst? Was ist deine Passion? Was lernst du gerade aus der Zeit jetzt?

Ich glaube, dass jeder, der anfängt, sich diese Fragen zu stellen und damit ganz eigene Antworten findet, einen Beitrag dazu leisten kann, dass wir als Gesellschaft gut durch diese Pandemie navigieren.